ADFC Hessen: Nachrichten

20.08.2011

Wie lassen sich die Hessischen Radfernwege noch attraktiver gestalten? Die Arbeitsgruppe Mittleres Fuldatal weihte im Frühjahr 2011 mit ADFC Landesvorsitzendem Volkmar Gerstein (4. von rechts) und dem Hessischen Verkehrsminister Dieter Posch (2. von rechts) neue Infotafeln ein.

Immer in Bewegung

Erschienen im August 2011

Am 20. August 1986 gründete sich der ADFC-Landesverband Hessen. Ein Rückblick auf zweieinhalb Jahrzehnte Engagement rund ums Rad

Von Volkmar Gerstein, Landesvorsitzender ADFC Hessen

"Wunderbar - das muss es doch sein", dachte ich, bereits etwas ins Schwitzen gekommen, an einer besonders schönen Wegstelle: Das Zwitschern der Vögel und das Plätschern des Bachs neben mir zu hören, durch beständiges Treten auf meinem 70er Jahre-Klapprad immer fitter zu werden - und das nicht im Urlaub, sondern täglich auf dem Weg zur Arbeit. 18 Kilometer einfache Strecke. "Das musste es doch sein", dachte ich - aber so einfach war es eben nicht, wenn man sich Anfang der 80er Jahre mit dem Rad nicht nur um Kassel herum, sondern auch mitten durch die Stadt bewegen wollte. Wo es in den 50er Jahren hier und da noch einen Radweg gab, hatten die Verkehrsplaner in den 60er und 70er Jahren kurzerhand Parkstreifen eingerichtet. 30 Meter breite, für den Autoverkehr optimierte Fahrschneisen, auf denen fürs Rad kein Zentimeter Platz vorgesehen war. Die Folge: Die Kasseler Innenstadt war für Radfahrer zu einer Hochrisikozone geworden.

Engagement fürs Rad - nicht nur lokal

Die Qualität der Radwege ist ein wichtiger Faktor, wenn es darum geht, den Anteil des Fahrrads im Verkehr zu erhöhen. Gute Rad-
wege verlaufen auf demselben Niveau wie die Fahrbahn. Dafür macht sich der ADFC in Hessen seit vielen Jahren stark

Zigtausende machten damals - nicht nur in Kassel, auch in vielen anderen Städten und Gemeinden - solche Erfahrungen, und viele engagierten sich für ihre Interessen in lokalen Radfahrer-Initiativen oder im damals brandneuen Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club. In Bremen hatte sich 1979 der ADFC-Bundesverband gegründet, und dessen lokale Gruppen sprossen überall wie Pilze aus dem Boden. Vor Ort ging es den Aktiven immer wieder darum, tiefe Löcher in die dicken Bretter der Verkehrspolitik zu bohren, aber auch um die Ausarbeitung von Routen für lokale Radtouren und um das Sammeln von allem möglichen Wissen rund ums Rad, um es dann über ADFC-Infostände weiter zu verbreiten.

Als regionale ADFC-Plattformen benachbarter Kommunen bildeten sich zu Beginn der 80er Jahre rechtlich eigenständige Bezirksvereine - so zum Beispiel der ADFC Rhein-Main oder der ADFC Nordhessen/Südniedersachsen. Diese Organisationsstruktur funktionierte recht gut, hatte aber einen Nachteil: Auf der wichtigen Ebene der Bundesländer gab es gegenüber der Politik keinen einheitlichen, legitimierten Ansprechpartner auf Seiten des ADFC. So kam es 1986 zur Gründung des Landesverbands Hessen. Als sein erster Sprecher hatte der Griesheimer Dr. Jürgen Wolf bereits in den Gründungswochen des ADFC Hessen Gespräche mit den Landtagsfraktionen und dem Verkehrsministerium zu führen, um die Förderung des Baus von Radverkehrsanlagen durch das Land Hessen im Haushaltsplan 1987 zu erreichen.

Stürmische Strukturreform

Mehr als 20 Jahre lang sah das Logo des ADFC Hessen so aus. 2009 wurde es durch die gegenwärtige Version ersetzt

Fünf Jahre lang existierten Landesverband und Bezirksvereine als Mittelebene zwischen Bund und Kommunen parallel nebeneinander. Doch die 1991 vom ADFC Bundesverband eingeleitete Strukturreform sah für dieses Feld nur noch die Landesverbände vor. Somit hatten sich die Bezirksvereine in den jeweiligen Landesverband einzugliedern. Zu Turbulenzen führte dies, weil es Bezirksvereine gab, die über die Grenzen von Bundesländern hinweg aktiv waren, so etwa der ADFC Nordhessen/Südniedersachsen und der ADFC Rhein-Neckar, der sich sowohl im nördlichen Baden-Württemberg als auch in der Südpfalz und an der südhessischen Bergstraße betätigte.

Die Auflösung dieser Bezirksvereine löste bei so manchem Aktiven Unmut und Kritik aus. Der damalige Bundesvorsitzende Karl-Ludwig Kelber reiste daher eigens nach Heidelberg, um die Wogen zu glätten. Und der junge ADFC Hessen, inzwischen mit Dr. Ingolf Biehusen an der Spitze, hatte nun den Beweis anzutreten, dass es sich auch mit der neuen Struktur erfolgreich arbeiten lässt.

Der Aufbau: Integrieren und vernetzen

Galt den einen die Durchsetzung einer fahrradfreundlichen Verkehrspolitik als wichtigstes Ziel, hatten sich die anderen einen attraktiveren Radtourismus auf die Fahnen geschrieben. Und während die einen schon Erfahrungen in den kommunalpolitischen Gremien gesammelt hatten, gab es andere, die hiervon noch weitgehend unbeleckt waren. Integration und Vernetzung war deshalb das Gebot der Stunde. In den 90er Jahren musste richtig rangeklotzt werden. Das hieß: Immer in Bewegung sein, um möglichst viel bewegen zu können!

Praktisch bedeutete dies, dass wir alle vier bis sechs Wochen unsere zweitägigen Vorstandssitzungen in einem anderen hessischen Kreisverband abhielten. Kost und Logis waren meist privat organisiert, so dass selbst der gemeinsame Abwasch dazu beitrug, uns enger zusammenzuschweißen. Die Idee dahinter: Je weiter die Kennenlernphase entwickelt ist, umso strammer können kontroverse Themen besprochen werden. Während der üblichen Fahrradtour mit den Verantwortlichen des jeweiligen Kreisverbands nahmen wir die verkehrspolitischen Probleme in Augenschein und diskutierten sie ausgiebig. Aber immer wieder ging es auch darum, das Einmaleins der Interessenvertretung zu vermitteln: Wer sind die Verantwortlichen in Behörden und Kommunen? Mit welchen Strategien kriegt man die Türen und die Köpfe dieser Leute auf? Gibt es die Möglichkeit zu kontinuierlichen Gesprächen? Wann und mit welchen Aussagen geht man schließlich an die Presse?

Die Aufbaujahre haben auch deutlich gezeigt, welche ungeheure Vielfalt in unserem Landesverband steckt. Unterschiedlichste Ideen, Ansätze und Herangehensweisen sind uns hier begegnet. Und die Erfahrung lehrt, dass möglichst große Gestaltungsräume für die Ortsverbände wie für die einzelnen Mitglieder ausgesprochen wertvoll sind, denn sie verhindern, dass der Spaßfaktor zu kurz kommt. Allerdings muss der Landesvorstand das nötige Fingerspitzengefühl entwickeln, rasch zu erkennen, wo legitime Spielräume enden und wo kontraproduktive Alleingänge beginnen - und in diesen Fällen auch entsprechend handeln.

Beginnende Professionalisierung

Verbandsarbeit in der Ära vor E-Mail und Internet, das bedeutete aber auch: Tippen von Tagesordnungen und Protokollen auf mechanischen Schreibmaschinen, das Ganze zigfach in Kuverts eintüten und mit Briefmarken versehen, bis die Zunge davon lädiert war. In Frankfurt war inzwischen die erste Landesgeschäftsstelle und in Kassel ein ADFC-Infoladen eingerichtet worden. Die Büroausstattung kam peu à peu zusammen, indem man alle Antennen ausfuhr und zu Spenden aufrief. Erster hauptamtlicher Geschäftsführer des ADFC Hessen war ab 1993 Fritz Biel, sein Nachfolger wurde 1995 Norbert Sanden.

Mehr als 1.000 Bett+Bike-Unterkünfte betreut der ADFC Hessen insgesamt in den drei Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Eines davon ist der "Grüne Kranz" in Rüdesheim

Neben der politischen Interessenvertretung gegenüber der Landesregierung gewannen für den ADFC Hessen ab Mitte der 90er Jahre langfristig angelegte Projekte immer mehr an Bedeutung: Unter dem Namen "Rad & Bett" war beim Bundesverband eine erste kleine Adress-Sammlung fahrradfreundlicher Unterkünfte entstanden. Niemand wusste damals, ob die Idee eine Eintagsfliege bleibt oder sich zu einem Dauerbrenner entwickeln würde. Der hessische Landesvorstand erkannte in "Bett+Bike", wie das Projekt inzwischen bekanntlich heißt, eine gute Chance, die radtouristische Infrastruktur zu verbessern und den ADFC in diesem Bereich stärker zu positionieren. Mit den Landesvorständen Rheinland-Pfalz und Saarland wurde eine Rahmenvereinbarung geschlossen, auch in diesen Bundesländern fahrradfreundliche Gastbetriebe zu zertifizieren. Es begann eine beständige Erfolgsgeschichte: In allen drei Bundesländern zusammen betreut der ADFC Hessen heute über 1.000 Bett+Bike-Betriebe, das ist ein Fünftel aller fahrradfreundlichen Unterkünfte deutschlandweit.

Seit 2004 sorgt der ADFC Hessen im Auftrag des Landes für eine gut sichtbare und lückenlose Wegweisung auf dem über 3.300 Kilometer umfassenden Netz der Hessischen Radfernwege - wie hier am R4

Bereits seit 1993 streckte der Landesvorstand seine Fühler in Richtung des Hessischen Wirtschaftsministeriums und des Hessischen Fremdenverkehrsverbandes - heute: Hessischer Tourismusverband - aus, um die Arbeitsgemeinschaft Hessische Radfernwege mitzugestalten. Ziel war die Entwicklung eines an die ADFC-Kriterien für Radwanderwege orientierten Routennetzes für Hessen. Hier brachte der ADFC Hessen sein Know-how kontinuierlich ein, und das sollte sich im Jahr 2004 auszahlen: Verkehrsminister Dr. Alois Rhiel übertrug dem ADFC die Realisierung einer einheitlichen Wegweisung und die Qualitätsverbesserung und -sicherung für das heute über 3.300 Kilometer umfassende Netz der Hessischen Radfernwege. Das bis dahin unter der Federführung des Landes entstandene Know-how - dazu gehörte nicht zuletzt die innovative Softwareentwicklung für die Wegekataster - konnte durch die Projektübernahme durch den ADFC Hessen gerettet werden. Fertig war die neue Wegweisung mit insgesamt 14.000 Schildern im Frühjahr 2009.

Rad und Alltagsverkehr - hessische Referenzprojekte

Für viele Menschen ist das Fahrrad ein selbstverständ-
liches Verkehrsmittel auf dem Weg zum Arbeitsplatz. Mit dem Projekt bike + business berät der ADFC Hessen Unternehmen und Kommunen wie sich die Rahmenbedingungen für Fahrrad-Pendler verbessern lassen.         Foto: Rolf Oeser

Der Radtourismus ist freilich nur die eine Seite des ADFC-Engagements - und folgerichtig entwickelte der Landesvorstand auch Projekte, die stärker auf die Förderung des Fahrrads im Alltagsverkehr zielen. Als unmittelbare Folge aus dem Nationalen Radverkehrsplan startete 2002 in Kooperation mit dem Regionalverband Frankfurt/Rhein-Main (damals Planungsverband) das Projekt bike + business. Den Kern bildet das ADFC-Projektbüro, das Unternehmen und Kommunen ganz gezielt zu Infrastruktur, Kommunikation und Routenplanung berät, um mehr Menschen zu motivieren, vom Auto aufs Rad umzusteigen.

Zu den inzwischen rund 20 Partnerunternehmen zählen unter anderem die Deutsche Bundesbank, der Deutsche Wetterdienst, die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit oder auch die Commerzbank AG. Seit 2011 gehört auch der Zweckverband Raum Kassel zu den Projektpartnern. Noch stärker als die bundesweite Gewinnspiel-Aktion "Mit dem Rad zur Arbeit" von ADFC und AOK ist bike + business dazu geeignet, grundlegende und dauerhafte Verbesserungen für die Fahrradnutzung im Alltag zu erzielen. Nicht zuletzt deshalb reicht die Strahlkraft von bike + business schon seit langem weit über die Landesgrenzen hinaus und drang 2009 sogar bis nach Südkorea, wo das Projekt in einer Fernsehreportage vorgestellt wurde. Das Konzept wird ständig weiterentwickelt, indem es als "bike + business 2.0" nun auch die Vorteile und Erfordernisse der immer populärer werdenden elektrisch verstärkten Räder einbezieht.

Und inzwischen beschreitet der ADFC Hessen im Rahmen einer Kooperation mit dem Institut für Humangeografie der Frankfurter Goethe-Uni sogar akademisches Neuland. Das von unserem Vorstand geleitete Projekt "Fahrradmobilität in Hessen" untersucht, mit welchen Strategien sich in den kommenden Jahrzehnten der gegenwärtige Radverkehrsanteil verdoppeln oder gar verdreifachen lässt. Dabei wird ein unschätzbares verkehrssoziologisches Know-how entstehen. Das Forschungsvorhaben ist Bestandteil der Nachhaltigkeitsstrategie der Hessischen Landesregierung.

Eine Organisation mit über 11.000 Köpfen

Erfolgreiche Projekte erfordern Menschen, die sie tragen und voranbringen. Die sich den alltäglichen Herausforderungen stellen und sie mit Kreativität und Ausdauer angehen. Der ADFC Hessen hat das Glück, immer wieder von Engagement und Kompetenz sehr guter haupt- und ehrenamtlicher Kräfte profitieren zu können. Allerdings lässt sich eine erfolgreiche Arbeitsstruktur nicht über Nacht aus dem Hut zaubern, man muss sie über Jahre hin entwickeln und ausbalancieren.

Die Vielfalt, die sich in den Projektkooperationen zeigt, spiegelt letztlich die Vielfalt der Menschen in unserem Landesverband wider. Zu dieser Vielfalt bedarf es nicht zuletzt auch einer gewissen kritischen Masse. Anfang der 90er Jahre gab es in Hessen weniger als 5.000 ADFC-Mitglieder, heute ist unsere Organisation auf über 11.000 angewachsen. In den vergangenen Jahren lag das Mitgliederwachstum in Hessen stets leicht über dem Bundesdurchschnitt. Das liegt zum einen an den bestehenden, durchaus unterschiedlich stark wachsenden und zum Teil sogar neu entstehenden Gliederungen, was inzwischen ein sehr seltenes Ereignis im ADFC geworden ist. In Hessen gelang dies in den letzten Jahren trotzdem mehrfach - und zwar in den Landkreisen Hersfeld-Rotenburg und Schwalm-Eder, in den Regionen Dill, Wetzlar und Dieburg/Groß-Umstadt sowie im Vogelsbergkreis.

Juni 2011: Auf zum Hessentag nach Oberursel - natürlich mit dem Rad! 11 ausgeschilderte Routen, acht Fahrradparkplätze für 3.500 Räder und ein vom ADFC ausgearbeitetes Fahrrad-Leitsystem machten Oberursel zum fahrradfreundlichsten Hessentag aller Zeiten.

Natürlich engagieren sich nicht alle 11.000 Mitglieder regelmäßig in der Verbandsarbeit. Die Aktiven, das sind im ADFC Hessen, wie in vielen anderen Vereinen, häufig die etwas älteren Mitglieder. Dies hat aber gar nicht so sehr mit der Altersstruktur der Mitglieder zu tun, sondern eher mit der Tatsache, dass ein 35-jähriges ADFC-Mitglied heute durch die Anforderungen von Beruf und Familie in der Regel über deutlich geringere Freizeitressourcen verfügt als ein 60-Jähriger. Mit anderen Worten: Heute 35-jährige passive Mitglieder stoßen in 10 oder 20 Jahren wieder als Aktive zu uns, wenn die Kinder aus dem Haus sind und sie beruflich fest im Sattel sitzen. Das ist auch gut so, denn unsere Reihenfolge lautet: Familie, Beruf, Ehrenamt. Der ADFC Hessen trennt nicht, er verbindet! Ohne diese Rücksichtnahme würden wir Konflikte im sozialen Umfeld unserer Aktiven provozieren.

Rücksichtnahme steht freilich nicht nur einem Landesvorstand im Umgang mit seinen Mitgliedern gut an - es lohnt sich auch, diese Tugend im Alltagsverkehr auf Straßen, Wegen und Plätzen zu beherzigen. Ein schönes Beispiel liefert ein Großereignis in unserem Jubiläumssommer 2011: Beim Hessentag in Oberursel kamen, trotz riesigem Andrang, Radfahrer, Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer mit etwas Gelassenheit ganz hervorragend miteinander aus. Dass dazu ein überaus innovatives, vom ADFC Oberursel ausgearbeitetes und durch den Landesvorstand unterstütztes Verkehrkonzept mit 3.500 Fahrradparkplätzen und einem cleveren Fahrrad-Leitsystem wesentlich beigetragen hat, freut uns organisierte Radfahrer in Hessen natürlich ganz besonders. Wunderbar, kann man dann nur sagen - so muss es sein auch für künftige Großveranstaltungen!

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