ADFC Hessen: Nachrichten

4.5.2018

Dritter Nahmobilitätskongress der AGNH 2018

"Zur Verkehrswende verführen, nicht erziehen."

Tarek Al-WazirVerkehrsminister Tarek Al-Wazir

Zwei Jahre nach ihrer Gründung ist die Arbeitsgemeinschaft Nahmobilität Hessen (AGNH) für Wirtschafts- und Verkehrsminister Tarek Al-Wazir eine Erfolgsgeschichte: 163 Kommunen und 12 Landkreise gehören ihr an, dazu zahlreiche Verbände und Hochschulen, die inhaltlich intensiv mitarbeiten. Es gibt die inhaltlich sehr gute Nahmobilitätsstrategie für Hessen, die Akademie für Nahmobilität, den Nahmobilitäts-Check, den die Kommunen als universale Arbeitshilfe einsetzen können, um zu ersten zielführenden Maßnahmen zu kommen. Als neues Förderinstrument ist 2017 die Nahmobilitätsrichtlinie eingeführt worden, im laufenden Jahr 2018 mit einem Budget von 5,5 Millionen Euro. Und die AGNH hat unter Mitwirkung des ADFC Hessen ein Handbuch für die Radwegweisung in Hessen erstellt, das aufgrund der hohen Nachfrage bereits einen Nachdruck erforderlich machte.

Dazu kommen "weiche" Maßnahmen wie die im Rahmen des Kongresses offiziell für 2018 gestartete Aktion STADTRADELN. Dank einer pauschalen Kostenübernahme des Landes können alle hessischen Kommunen hieran gebührenfrei teilnehmen und so sehr einfach Werbung fürs Radfahren machen.

Minister Al-Wazir eröffnet das STADTRADELN 2018Minister Al-Wazir eröffnet offiziell das STADTRADELN 2018

Überhaupt dient das Wortspiel Nahmobilität "einfach machen" als programmatische Formel für die derzeitige Arbeitsphase der AGNH. Ein noch junges Projekt ist das Fachzentrum Schulisches Mobilitätsmanagement. Nur wer in jungen Jahren die Erfahrung macht, dass es auch ohne Elterntaxi geht, macht sich später auch ganz selbstverständlich mit dem Rad oder zu Fuß auf den Weg, so Al-Wazir. Weiter ausgebaut sollen auch Bausteine zur Öffentlichkeitsarbeit werden - von Videos bis zu Serviceveranstaltungen in der Kommune.

Auch wenn das Land günstige Rahmenbedingungen schaffen kann, kommt es letztlich doch auf die Kommunen und ihre konkreten Maßnahmen an, den Verkehr vernünftiger und menschlicher zu gestalten. Nicht zuletzt deshalb gehört zu einem Nahmobilitätskongress stets ein Erfahrungsbericht aus der kommunalen Praxis - diesmal von Regierungsrat Hans-Peter Wessels, Vorsteher des Bau- und Verkehrsdepartements des Kantons Basel-Stadt.

Basel ist auf dem Weg zur Velostadt

Regierungsrat Hans-Peter WesselsRegierungsrat Hans-Peter Wessels

Verkehrspolitik fängt bereits bei der Raumplanung an, lautet eine zentrale These von Wessels. Wenn es möglich ist, in einem Viertel zu wohnen, zu arbeiten und einzukaufen, minimiert das Verkehrsströme. Deshalb ist eine gute funktionelle Durchmischung aller Stadtviertel essentiell. Und Basel ist in der Lage, den motorisierten Individualverkehr zu bändigen: Abgesehen von wenigen Hauptrouten gilt für den Autoverkehr praktisch flächendeckend Tempo 30, in Begegnungszonen, die in Wohngebieten auf Antrag von Bürgern in einem typisch Schweizer basisdemokratischen Prozess eingerichtet werden können, ist nur Tempo 20 erlaubt. Und möglicherweise trägt sogar die fehlende Pflicht, bei Neubauten eine bestimmte Zahl von Kfz-Parkplätzen erstellen zu müssen, dazu bei, dass die Hälfte der Haushalte in Basel autofrei lebt. 40 Prozent der Baseler kommen zu Fuß oder per Rad zur Arbeit. Wesels: "Basel ist auf dem Weg zur Velostadt."

Um es vollends zu werden, will Basel seine Einwohner nicht zur Radbenutzung erziehen, sondern verführen, wie Wessels betont. Das Mittel dazu ist in erster Linie die Verbesserung der Infrastruktur. Das Geld, das dafür - etwa für die Einrichtung von Fahrradboxen - nötig ist, nimmt Basel aus den Einnahmen der Parkraumbewirtschaftung, jährlich etwa drei Millionen Schweizer Franken.

Rund 300 Teilnehmer kamen zum 3. NahmobilitätskongressRund 300 Teilnehmer kamen zum 3. Nahmobilitätskongress

Zur Verbesserung der Infrastruktur braucht man manchmal gar nicht viel Geld, dafür aber etwas Mut, erklärt Wessels. So etwa bei der Freigabe eines sehr breiten Gehsteigs an einer großen Brücke als "Velosteig". Nach Schweizer Normen wäre dies nicht erlaubt gewesen, in der Praxis zeigte sich aber, dass Fußgänger und Radfahrende die Verbindung konfliktfrei nutzen konnten - so dass dies nun auch die "offizielle" Lösung ist. Ein Fall, in dem es sich gelohnt hat, die Norm mit dem gesunden Menschenverstand quasi zu überstimmen. Wessels' Fazit: "Wenn man etwas wirklich will, muss man dranbleiben, Infrastrukturentwicklung ist nichts für Ungeduldige."

Zornige Einzelkämpfer?

Al-Wazir und WesselsDiskussionsrunde mit Tarek Al-Wazir und Hans-Peter Wessels

Die anschließende Diskussion mit Minister Al-Wazir und Regierungsrat Wessels drehte sich vor allem um das Thema Bürgerbeteiligung. Laut Wessels ist sie bei Verkehrsprojekten unverzichtbar, es komme aber auf den richtigen Zeitpunkt an. Werden die Bürger zu früh einbezogen, fühlen sie sich überfordert, tut man es zu spät, fühlen sie sich vor vollendete Tatsachen gestellt. Moderator Thiemo Graf richtete darauf an Tarek Al-Wazir die Frage, wie er die in einigen hessischen Städten angestrebten Radentscheide bewerte. Was der Minister der Bewegung abgewinnen kann, ist der nötige Druck, den sie gegen die jahrzehntelange Bevorzugung des Autoverkehrs in die politische Debatte bringt: "Die zornigen Leute braucht man", so der Minister wörtlich. Sie seien notwendig, um Prozesse zu beschleunigen. Doch sind die Radentscheide bloß Projekte von Einzelkämpfern, die ihre Vorstellungen von Infrastruktur mit einer Revolution durchsetzen wollen?

Al-Wazir und WesselsDiskussionsrunde mit Burkhard Stork und Mathias Samson

"Radentscheide gehen nicht von wütenden Einzelkämpfern aus", widerspricht ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork, der sich eine Diskussionsrunde später mit Staatssekretär Mathias Samson das Podium teilt. Vielmehr speisen sich Akteure und Unterzeichner der Radentscheide aus der gesamten Gesellschaft: "Die Leute wollen einfach, dass Kinder in der Stadt Fahrrad fahren können", so Stork. Nicht einigen konnten sich Samson und Stork, ob Hessen in den vergangenen vier Jahren beträchtliche oder eher bescheidene Fortschritte bei der Entwicklung der Nahmobilität gemacht habe. Aber eine gemeinsame Sichtweise war hier auch nicht zu erwarten.

Weniger Kfz-Parkplätze - mehr Radverkehr?

Ein Nahmobilitätskongress hat andere Ziele - zum Beispiel neue Impulse zu setzen. Einer dieser Impulse könnte der aus Basel berichtete Verzicht auf die Parkplatzerstellungspflicht in Wohn- und Geschäftsgebäuden sein, ließ Minister Al-Wazir durchblicken. Das sei auch angesichts der knappen Flächen und hohen Baukosten insbesondere in der Rhein-Main-Region ein interessanter Ansatz. Ein Mittel zur Veränderung des Modal Split kann es aber nur im Zusammenspiel mit anderen Maßnahmen sein, betont ADFC-Landesvorsitzender Stefan Janke: "Eine Minimierung der Kfz-Parkplätze muss flankiert werden durch eine Verbesserung der Fahrrad-Infrastruktur und ein attraktiveres ÖPNV-Angebot. Außerdem muss die Verkehrsüberwachung intensiviert werden, um den Missbrauch von Fuß- und Radwegen als billige Kfz-Stellplätze zu stoppen."

Fazit

"Der 3. Nahmobilitätskongress zeigte deutlich, dass in den letzten zwei, drei Jahren von Seiten des Landes ein bemerkenswerter Aufschwung bei der Förderung der Nahmobilität zu verzeichnen ist. Jetzt wird es darauf ankommen, weiter Tempo zu machen, denn der Nachholbedarf ist gewaltig", so das Fazit von Norbert Sanden, Geschäftsführer des ADFC Hessen.


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