ADFC Hessen: Nachrichten

05.10.2020

Interview mit Kai Georg Bachmann, Verbandsdirektor Zweckverband Raum Kassel

"Radverkehrsförderung ist keine Eintagsfliege mehr!"

Kai Georg Bachmann, Verbandsdirektor Zweckverband Raum Kassel, sprach mit Paul van de Wiel, stellvertretender Vorsitzender des ADFC Hessen, ausführlich über die Radverkehrsentwicklung im Raum Kassel.

ADFC Hessen: Wir wollen uns heute über Mobilität und Radverkehr unterhalten - welche Strategie hat der Zweckverband Raum Kassel (ZRK) dazu denn entwickelt?

Kai Georg Bachmann: Im Rahmen der Entwicklungsplanung ist der ZRK auch für die Entwicklung der Mobilität in der Region Kassel zuständig. Da gibt es den Verkehrsentwicklungsplan 2030, der für den Bereich Nahmobilität auch klare strategische Ansätze hat - etwa im Hinblick auf den künftigen Modal Split. Jetzt machen wir uns Gedanken, wie wir eine Nahmobilitätsstrategie hinbekommen, in der wir den Umweltverbund, also die Fußgänger, den Nahverkehr und den Radverkehr stärker zusammendenken. Wir sind dabei vorzudenken: Wie können künftige Mobilitätshubs aussehen, wo dann die einzelnen Verkehrsträger zusammenkommen. Wo es dann für die Menschen auch bequemer und selbstverständlicher wird, auch mal vom Auto wegzukommen. Dazu muss ein vernünftiges Angebot da sein. Wir haben hierfür gute Möglichkeiten, weil wir noch relativ viel Entwicklungsraum haben, der bis vierzig Minuten von Kassel entfernt liegt. Solche Chancen gibt es in Rhein-Main gar nicht mehr.


Kai Georg Bachmann

Zur Person: Kai Georg Bachmann ist in Kassel geboren und in Helsa-Wickenrode aufgewachsen. Schon als Schüler interessierte er sich für erneuerbare Energien. Rad gefahren ist Bachmann besonders intensiv ab Anfang 20, als er an Triathlon-Wettkämpfen teilnahm. Nach 15 Jahren bei der Bundeswehr kandidierte er erfolgreich als Bürgermeister in Trendelburg. Nach sechs Jahren im Amt des Bürgermeisters wurde Kai Georg Bachmann Verbandsdirektor beim Zweckverband Raum Kassel (ZRK). Die Entwicklung der gesamten Region mit rund 350.000 Einwohnern mitzugestalten, sieht der vierfache Familienvater als motivierende Herausforderung.


Wir sind froh, dass wir jetzt eine Idee davon haben, wo wir im Ballungsraum um Kassel bestimmte Entwicklungspotenziale sehen und dass das positive Abstrahlmöglichkeiten in das Umland hat. Da kommt wieder die Verkehrsentwicklung ins Spiel. Das ergibt nur Sinn, wenn ich den ÖPNV mit vorausdenke und über die Raddirektrouten hinaus ein Alltagsradnetz vernünftig ausbaue. Außerdem gilt es, auch den elektromobilen Individualverkehr, den Linienverkehr und den On-Demand-Verkehr, der künftig die Bürgerbusse ersetzen wird, miteinander zu verknüpfen.

Arbeiten Sie da zusammen mit der AGNH?

Ja, sehr eng. Zum Beispiel beim Projekt "Radfahren neu entdecken", das das Land aufgelegt hat, um sich Lastenräder und E-Bikes ausleihen zu können. Das haben wir hier in der Region koordiniert, damit jede Kommune daran partizipieren konnte. Auch zur Fördermittelakquise sind wir mit unserem Ansprechpartner Dr. Klaus Dapp immer direkt im Gespräch. Derzeit erarbeitet der ZRK einen Vorschlag für Lückenschlüsse im Rahmen von Herstellungsradwegen. Eine Erstabstimmung mit Hessen Mobil ist hierbei schon erfolgt.


Zweckverband Raum Kassel

Der Zweckverband Raum Kassel: Der ZRK wurde im Zuge der Gebietsreform in den 70er Jahren ins Leben gerufen und ist zuständig für die Entwicklungsplanung, Flächennutzungsplanung, Landschaftsplanung. Alles, was an Entwicklungspolitik passiert, wird über den Verband abgestimmt. Dabei sucht der ZRK die Nähe zu den Kommunen: Bei der Flächennutzungsplanung stehen die Themen Verkehrsanbindung, Nachhaltigkeit, Einsatz erneuerbarer Energien im Vordergrund. Zum ZRK gehört ein 21-köpfiges Team, darunter zehn Fachplaner, die ihre Kapazität als Stadtplaner, Landschaftsplaner, Verkehrsplaner einbringen und sich um die Belange der Verbandskommunen kümmern. Der ZRK ist Teil des Regionalplans Nordhessen.


Wie sehen Sie die Entwicklung des Radverkehrs aktuell in der Region?

Wir wollen hier Geschwindigkeit aufnehmen, eine deutlich höhere als in der Vergangenheit, weil wir jetzt auch eine große Chance sehen. Das ist keine Eintagsfliege, sondern ein wichtiges Thema, das immer mehr Menschen verstanden haben. Dabei gibt uns das E-Bike hier in unserem welligen Bereich in Kassel einmalige Entwicklungschancen.

Und das Thema Radentscheid hat natürlich auch noch einmal gezeigt, dass sich unheimlich viele Menschen für das Thema mobilisieren lassen. Über 20.000 haben beim Radentscheid mitgemacht und daneben gibt's eine Vielzahl von Menschen, die auch radfreundlich sind, die das Thema auf jeden Fall mitzieht. Da muss man in der Politik nicht mehr Angst haben, nur ein Nischenpublikum zu bedienen.

Dass wir wirklich mehr Anteil am Modal Split bekommen, hängt von der Infrastruktur ab. Deshalb freuen wir uns, dass wir jetzt mit dem ADFC in Kassel eng zusammenarbeiten - auch um mit den fahrradfreundlichen Arbeitgebern noch nach vorn zu kommen. Letztlich müssen auch die Arbeitgeber für die Fahrrad-Pendler bereit sein. Wenn das teure E-Bike 200 Meter entfernt am Radbügel hängen muss, benutzt es keiner für den Weg zur Arbeit.

"Damit es für die Menschen bequemer und selbstverständlicher wird, auch mal vom Auto wegzukommen, muss ein vernünftiges Angebot da sein."

Betrachten wir einmal die Raddirektverbindung Kassel-Vellmar - wie sieht da das Zeitfenster aus?

Die Machbarkeitsstudie ist 2018 abgeschlossen worden, ab 2019 ging es um die Frage, wie eine zügige Realisierung möglich ist. Wir sind 2019 schon in die Vergabe gegangen an ein Ingenieurbüro, was die echte Umsetzung der Raddirektverbindung Kassel-Vellmar angeht. Das macht das Büro Iffert und Partner aus Niestetal, mit dem wir gute Erfahrungen gemacht haben. Und dort sitzen jetzt in einem regelmäßigen Arbeitskreis das Ingenieurbüro, Hessen Mobil, der ZRK, die Stadt Kassel und die Stadt Vellmar zusammen.

Der ZRK hat ganz bewusst die Federführung als Auftraggeber bekommen. Unser Ziel ist, dass wir diese Route immer auch als Ganzes in der Planung verstehen. Die Herausforderung ist, dass wir eine Route realisieren und auch erleben können, wie die Akzeptanz ist. Da darf man aus Sicht des Zweckverbands nicht zu unterambitioniert herangehen.

Aber jetzt mal konkret: Wann denken Sie, dass...?

Ist doch konkret! Also Entwurfsplanung bedeutet die ganze Vorarbeit… Dass man schon einmal durchdacht hat: Wie kann man von der Holländischen Straße bis zum Rathaus in Vellmar kommen?

Die Übernahme der Bau- und Planungskosten - wie verläuft die Verteilung hier bei Ihnen im Zweckverband?

Die Planungskosten werden mit AGNH-Mitteln gefördert zu 75 Prozent. Wir gehen im Moment von Planungskosten um die 100.000 Euro aus. Den Rest teilen wir unter den Verbandsmitgliedern nach deren Anteil an der Strecke auf. In diesem Fall sind es zwei Drittel für die Stadt Kassel und ein Drittel für die Stadt Vellmar.

Und die Baulasten, die dann später kommen - die werden auch ähnlich verteilt?

Eine Fördermöglichkeit durch Hessen Mobil haben wir bei diesen Raddirektverbindungen eigentlich nicht, weil wir dort immer in der kommunalen Zuständigkeit bleiben. Den Beteiligten ist klar, dass sie auch in bestimmte Pflichten geraten, wenn sie das Qualitätskriterium Raddirektverbindung halten wollen. Ob von Anfang alles perfekt funktioniert - da bin ich der Meinung: Lasst uns erst einmal diese Strecke haben und dann schauen wir uns an, wo es gegebenenfalls Probleme gibt. Denn sonst bauen wir schon vorher Barrieren auf und Ängste - dann wird's wieder nix…

"Die Entwicklung des Radverkehrs ist keine Eintagsfliege, sondern ein wichtiges Thema, das immer mehr Menschen verstanden haben."

Hilft es Ihnen eigentlich, dass es jetzt auch bei Hessen Mobil mehr Ressourcen gibt?

Absolut. Interessant ist ja, dass Hessen Mobil jetzt sich der Thematik Herstellungsradweg angenommen hat. Früher war es so, dass Sie quasi nur einen Radweg an einer Landstraße bekommen haben, wenn der direkt an der Landstraße war - und eben nicht auf einem Feldweg, der 300 Meter daneben parallel verläuft. Das ist jetzt aufgelöst. Diese Chance versuchen wir jetzt, auch über planerische Vorarbeit, für die Region Kassel zu nutzen.

Wir haben Herrn Weidner, der bei Hessen Mobil für den Radverkehr zuständig ist, bereits einen ersten Entwurf geliefert. Dafür haben wir die gesamten Daten des Radverkehrskonzeptes des Landkreises Kassel in unserem Geodaten-Informations-System (GIS) mit den früheren Daten für die Radverkehrsbeschilderung und dem tatsächlich stattfindenden Radverkehr, soweit er getrackt wurde, abgeglichen. Das ist unter anderem die Datengrundlage, um Vorschläge für Herstellungsradwege und so weiter zu machen.

In manchen Regionen sind Landwirte dagegen, dass Wirtschaftswege benutzt werden…

Problematisch wird es, wenn Landwirte und Radfahrer sich gegenseitig hochschaukeln, weil entweder der Treckerfahrer nicht zur Seite fährt oder aber der Radfahrer bewusst in der Mitte der Fahrspur bleibt, damit ja kein Verkehr an ihm vorbeikommt. Da sind beide Seiten gefordert. Aber wir können uns nicht von der Landwirtschaft vorschreiben lassen, dass Wirtschaftswege nicht entsprechend für den Radverkehr genutzt werden…

Wie ist die Zusammenarbeit mit BUND und NABU mit Blick auf geschützte Tiere, geschützte Pflanzen…?

Neben der Entwicklungs- und Flächennutzungsplanung sind wir auch komplett für die Landschaftsplanung zuständig. Mit Dr. Claus Neubeck gibt es einen sehr anerkannten Fachmann, der auch Projekte wie blühende Feldwege, Ränder, Säume, Renaturierungsmaßnahmen in die Wege leitet und dazu auch Förderanträge stellt. Er ist sehr eng mit den Naturschutzverbänden vernetzt. Da sind wir im guten Austausch.

"Der Radentscheid kann sich auf die Fahnen schreiben, dass ohne ihn viele Entscheidungen nicht so einfach zu treffen gewesen wären."

Den Radentscheid hatten Sie ja selbst schon erwähnt. Wie kann die Zivilgesellschaft am besten zur Beschleunigung der Verkehrswende beitragen?

Ich finde es unheimlich wichtig, deshalb gehen wir auch hier intensiv auf den ADFC zu, dass man immer die Sache im Blick hat, und ich sehe die Sache absolut im Blick beim Radentscheid. Übrigens wäre der Erfolg auch mit einer Parlamentsentscheidung nicht wesentlich größer geworden. Der Radentscheid kann sich auf die Fahnen schreiben, dass ohne ihn viele Entscheidungen nicht so einfach zu treffen gewesen wären. Ich will gar nicht sagen, dass man das nicht im Kopf gehabt hätte auf unserer Seite oder von der Stadt oder vom Landkreis. Aber diese Unterstützung, dass da eine große, relevante Gruppe ist, die das auch will und nicht locker lässt, war natürlich gut für das Thema. Der Radentscheid hat es auch geschafft, das Thema nicht zu überziehen, weil er erkannt hat: Okay, jetzt braucht's auch mal in der Politik und in der Stadtgesellschaft ein bisschen Zeit, bis etwas passiert. Ein Planverfahren dauert ein bis anderthalb Jahre. Die ganzen Entscheidungen, die in den letzten Monaten getroffen wurden, sind doch ein Riesenerfolg.

Der ADFC, die Radentscheide, der VCD und FUSS e.V. bereiten gerade einen Volksentscheid für ein hessisches Verkehrswendegesetz vor. Was raten Sie dieser Initiative?

Man muss darauf achten, möglichst viele Menschen als Gewinner mitzunehmen. Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern indem man sagt: Kommt mit auf unserem Weg, das ist der gesündere, das ist der intelligentere, klimafreundlichere. Anstelle des Gefühls, durch so ein Gesetz bevormundet zu werden, sollte die Einsicht stehen, dass das genau das Richtige ist. Das ist mein Rat. Also lieber noch einmal eine Debatte mehr führen und auf die anderen eingehen und Verständnis gegenseitig entwickeln, als es mit der Brechstange zu versuchen.

"Man muss möglichst viele Menschen als Gewinner mitnehmen - indem man sagt: Kommt mit auf unserem Weg, das ist der gesündere, intelligentere, klimafreundlichere."

Haben Sie nicht manchmal Angst, dass in ein paar Jahren diese Welle vorbei ist und dass viele Projekte plötzlich nicht mehr interessant sind und auf halber Strecke liegen bleiben?

Also ich sage Ihnen ganz ehrlich, die Sorge, die ich habe - Angst habe ich nicht, aber Sorge - ist, dass wir in eine Zeit kommen könnten in unserem Land, wo wir uns vorrangig um ganz andere Themen kümmern müssen, als um das, was jetzt wichtig ist. Im Moment haben wir Antennen für Klimaschutz und Verkehrswende und gehen das auch an. Dem einen geht's vielleicht zu langsam, dem anderen geht's zu schnell. Diesen Weg so zu gehen, hängt aber davon ab, dass wir auf einer gewissen Wohlstandswelle bleiben. Ich meine das jetzt sowohl vom Wirtschaftlichen her, als auch von der Frage der inneren und äußeren Sicherheit, des sozialen Friedens. Und wenn wir uns anschauen, was die Populisten in der Welt und leider auch in Deutschland im Moment so anzetteln, hoffe ich, dass wir in dieser Richtung standhaft bleiben, dass wir in Nordhessen diesen vernünftigen und Menschen zugewandten Kurs beibehalten und dass die Populisten da nicht die Oberhand gewinnen. Das ist für mich die Grundvoraussetzung.

Solange der gesellschaftliche Frieden, wie wir ihn im Moment erleben, hält, ist das Thema Radverkehr und Klimaschutz inzwischen gesetzt. Das ist inzwischen fest verankert. Nehmen Sie das Bike-Leasing, wodurch inzwischen ganz viele wieder angefangen haben, Rad zu fahren, weil sie ein E-Bike sich jetzt leisten können über ihre Arbeitgeber. Nehmen Sie das Thema Generationsdenken, was sich ein bisschen geändert hat, Entscheider, die heute in Positionen sind, sind häufig viel offener, als das vielleicht noch vor 20 Jahren war.

Bei der Jubiläumsfeier 10 Jahre Radforum - Stadt Kassel, Landkreis Kassel, ZRK - haben wir die Protagonisten von damals auf dem Podium gehabt. Ein Mitarbeiter, der jetzt gerade bei uns auch erst in Rente gegangen ist, einer vom Landkreis, einer von der Stadt. Und wenn die dann erzählen, was sie vor zehn Jahren für Klimmzüge machen mussten, um überhaupt eine Veranstaltung zu machen, um die erste Radwegebeschilderung an den Start zu bringen, dann bin ich aus diesem Gespräch eigentlich rausgegangen mit einer total positiven Stimmung.

Wir hatten danach eine weitere Podiumsrunde. Da waren Staatssekretär Jens Deutschendorf, der Kasseler Verkehrsdezernent Dirk Stochla, ein Vertreter des Landkreises und ich selbst auf dem Podium. Und wenn ich sehe, um was für Hausnummern wir uns jetzt kümmern: Über 40 Millionen für Raddirektverbindungen, Weiterführung der Alltagsradverkehre, und auch in der Stadt Kassel, von der autofreundlichen Stadt hin zu einem Radverkehrskonzept, es sind ja alles Schritte, die in den letzten zehn Jahren gegangen worden sind, und die nicht mehr zurückgehen. Das ist keine Eintagsfliege mehr.

Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit dem ADFC erlebt? Sind kritische Stimmen erwünscht?

Das Schlimmste, was, in einer demokratischen Gesellschaft passieren kann, ist, dass man sich an einem Tisch trifft und dann immer nur über Dinge spricht, wo man eindeutig der gleichen Meinung ist. Was mich natürlich trotzdem freut, ist eine möglichst große Schnittmenge zu finden, wenn wir im Austausch sind. Wo wir fragen: Wie kann der eine den anderen bei seiner Zielvorstellung unterstützen und wo können wir voneinander lernen? Wo es irgendwo geht, werden Sie im Zweckverband Raum Kassel immer einen ehrlichen und motivierenden Partner haben für die Weiterentwicklung des Radverkehrs.

Schönen Dank für das Interview!



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